Carl von Winterfeld: Johann Rosenmüller
Datum: 2010-09-30
Quelle: Carl von Winterfeld: Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst des Tonsatzes. 2. Teil: Der evangelische Kirchengesang im siebzehnten Jahrhunderte. Leipzig 1845, 241-249.
Unter den Sängern kirchlicher Weisen in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts pflegt man neben Schein auch Johann Rosenmüller mit großem Lobe zu nennen. Er war in Chursachsen geboren, wie es scheint nach den ersten zehn Jahren des Jahrhunderts, um Vieles jünger also als Schein. Von seinen früheren Lebensschicksalen ist nichts bekannt. Zuerst erscheint er 1647 zu Leipzig als Collaborator an der dortigen Thomasschule, und um ein Jahr später, 1648, als Musikdirektor und Vorsteher eines eigenen Chores neben dem Cantor Tobias Michaelis, dem Nachfolger J. Herrmann Scheins, einem durch körperliche Leiden, vorzüglich an der Gicht, meist außer Thätigkeit gesetzten, sonst achtbaren Tonkünstler. In eben diesem Jahre (1648) ließ Rosenmüller seine "Kernsprüche, meistentheils aus heiliger Schrift etc." zu Leipzig bei Lankisch Erben erscheinen, die er mehren Gönnern, unter ihnen auch jenem Tobias Michaelis widmete. Wahrscheinlich würde er bei seinem Geschick und seinen vorzüglichen Gaben nach dessen Tode - er starb 1657 - sein Nachfolger geworden seyn, hätte nicht eine schwere Anklage als Verführer seiner Schüler ihn 1655 in peinliche Haft und Untersuchung gebracht. Beiden wußte er sich durch die Flucht zu entziehen; er entwich nach Hamburg, und soll von dort aus den Churfürsten Johann Georg schriftlich um Gnade angefleht, und wie man erzählt, seiner Bittschrift das Lied: "Straf mich nicht in deinem Zorn" mit der von ihm dazu erfundenen, noch jetzt unter uns fortlebenden Melodie beigefügt haben, die gegenwärtig häufiger nach dem Liede "Mache dich mein Geist bereit" genannt wird. Ist dies gegründet, so hätte er jener ihn beschimpfenden schweren Anklage sich schuldig gewußt, denn sonst würde er um Gerechtigkeit, nicht um Gnade gefleht haben; und doch konnte er noch in der Widmung seiner Kernsprüche sagen: "derjenige müsse ein lebendiger Teufel seyn, welcher, wenn er ein Miserere oder vielleicht einen göttlichen Strafspruch in einer durchdringenden Harmonie anhöre, nicht wollte nur in etwas zu Erkenntniß seiner Sünden beweget werden; diejenige Seele müßte ihr eigener Richter und Henker seyn, welche aus einem wohlklingenden Trostspruche ihr selbst unauflösliche Ketten, höllisch Feuer und die ewige Pein zusprechen und herausklauben wollte; derjenige Geist müßte nicht wohl bei Sinnen seyn, welcher wenn er von der unvergänglichen Freude des ewigen Lebens eine artige Zusammenstimmung höre, ihm doch wollte dieser Welt Wollust so sehr gefallen lassen, daß er auch nicht einmahl eine Begierde nach dem Ewigen tragen sollte." Fast möchte man glauben, schon damahls sei er von bösen Gerüchten und Anschuldigungen heimlich verfolgt worden, und habe ihnen als beste Schutzwehr seinen heiligenden, innerlich läuternden Beruf entgegensetzen wollen, mit dem die sündliche Neigung deren man ihn anklage, geschweige denn ein Verharren in derselben, ganz unvereinbar sei; seine Worte tragen zu sehr das Gepräge von Innen heraus gesprochen zu seyn, die schwerste Heuchelei, die tiefste Verderbniß müßten wir bei ihm annehmen, wenn wir das Gegentheil glauben wollten. Vielleicht werden Leichtsinn, Sinnlichkeit, unvorsichtiges Benehmen, einen schweren Verdacht auf ihn geworfen haben, dieser mag von Feinden und Neidern benutzt worden seyn, er mag sich unauflöslich verstrickt geglaubt, sich unrettbar verloren gehalten haben, und so zur Flucht, dann zu falschen Schritten verleitet worden seyn. Dem sei nun wie ihm wolle, sein Gesuch blieb fruchtlos, er floh deshalb nach Italien, wo er zumeist in Venedig verweilte, im Sinne der dortigen Tonschule sich bildend, mit Meistern verkehrend wie Rovetta, Legrenzi, Peter Andreas Ziani, daneben aber seinerseits wieder deutschen Tonkünstlern durch Unterricht forthelfend, unter denen uns Johann Philipp Krieger genannt wird. Von dort her berief ihn der Herzog von Braunschweig Wolfenbüttel - wir wissen nicht ob Herzog August, oder sein Sohn und Nachfolger Anton Ulrich - als Capellmeister nach Wolfenbüttel, und gern setzen wir voraus, entweder sei in der verflossenen Zeit seine Unschuld an das Licht gekommen, oder ein unsträfliches Leben habe einen früheren Fehltritt vergessen gemacht. Mindestens soll er bis an sein Lebensende - im Jahre 1686 - sich der allgemeinen Hochachtung erfreut haben.
Es kann nicht befremden, Rosenmüller im Allgemeinen auf demselben Wege bei seinem Schaffen und Bilden wandeln zu sehen, auf dem wir Heinrich Schütz und seine Zeitgenossen erblicken; dem von den italienischen Meistern gebahnten. Seine Jugend fiel in eine Zeit wo eine allgemeine Vorliebe für italienische Tonkunst herrschend war, wo eine neue Richtung in derselben fast aller Gemüther siegreich sich bemeistert hatte; seine Lebensschicksale führten ihn auf längere Zeit nach Italien, hielten ihn dort fest, und mußten jene Vorliebe, die ohnedies in ihm lebte, noch fester begründen. Blieb er auch dem evangelischen Glauben treu, so weilte er doch zu lange außerhalb der Gemeinschaft der evangelischen Kirche, um durch den ihr eigenthümlichen geistlichen Gesang der Gemeine zum Schaffen angeregt zu werden, oder auch nur Veranlassung zu finden, die melodische Form des Kirchenliedes mit heiligen Gesängen anderer Art lebendig in Verbindung zu bringen. Wenn wir nun in früherer Zeit, wo die Tonmeister evangelischen Glaubens in ihren für den Sängerchor bestimmten Tonsätzen nur in der aus der alten Kirche überkommenen Art ihre Kunst für die gereinigte fortübten, ihren Werken solcher Art vorübergingen, weil sie uns nichts eigenthümlich Bezeichnendes, nichts zu der Gemeine in lebendigem Verhältnisse Stehendes boten, bis wir in Eccards Festliede zuerst etwas dieser Art erkannten, das nun in hoher Bedeutung sich geltend machte, seitdem aber stets auch das dem Kunstgesange ausschließend Bestimmte in seinem Verhältnisse zum Gemeinegesange zum Gegenstande unserer Betrachtungen machten; so verweilen wir nun auch zunächst bei demjenigen, was Rosenmüller in jenem Sinne schuf, und prüfen dann, mit welchem Rechte er auch den Sängern kirchlicher Liedweisen beigezählt werden dürfe.
Seine "Kernsprüche, mehrentheils aus heiliger Schrift alten und neuen Testaments", erschienen zu Leipzig, bei Friedrich Lankischen Erben gedruckt, in den Jahren 1648 und 1653. Sie sind theils auf lateinische, theils deutsche, meist biblische Texte gesetzt, nach Concertweise, wie der Meister in seiner Widmung selber sagt; begleitet und unbegleitet, und im ersten Falle mit oder ohne Instrumentalvorspiele. Manche unter ihnen - so das In te Domine speravi, die 6 ersten Verse des 31sten Psalms - bestehen aus einer Reihe besonders abgegrenzter Tonsätze, zwischen die der erste Satz: In te Domine speravi, non consundar in aeternum (Herr auf dich traue ich, laß mich nicht zu Schanden werden) in Wiederholungen immer wieder hineinklingt, und so zu einem das Einzelne verknüpfenden Bande wird. Wo die Begleitung erscheint, zeigt sie stets wesentliche, die Fülle des Zusammenklanges, den Reichthum der Nachahmungen mehrende Stimmen. Sätze, von einzelnen Stimmen vorgetragen - so hier der des Tenors: quoniam sortitudo mea et refugium meum es tu - sind stets deklamatorisch-recitativisch gesetzt. Unter den unbegleiteten Gesängen erscheint vor allen der für Alt, Tenor und Baß dreistimmig gesetzte kräftig und schön, über die Worte: "Kündlich groß ist das gottseelige Geheimniß, Gott ist offenbaret im Fleisch, gerechtfertiget im Geist, erschienen den Engeln, geprediget den Heiden, geglaubet von der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit" [Fußnote Winterfelds: S. Beispiel Nr. 109.]. Auch hier tönen die Anfangsworte in den Gesang wiederholt hinein, meist in verschiedener Tonart, und dadurch an Kraft gesteigert, das Geheimniß preisend, dessen Verkündigung den Kern des Ganzen bildet. Überhaupt liebt Rosenmüller die Wiederholung einzelner, zumeist durch Rhythmus hervortretender Sätze, zwischen einzelnen Abtheilungen eines umfangreicheren Gesanges, um das Ganze in seiner größeren Ausdehnung, bei der demnach Einzelnes schnell vorüberrauscht, besser als solches zusammenzuhalten. Dennoch sind es nicht immer die Anfangssätze, deren er sich dazu bedient. Diese bilden oft nur einen feierlichen Eingang, und dann folgt erst ein Satz, den, sei es Wechsel einzelner oder gepaarter Stimmen in der Höhe und Tiefe mit vollem Chorgesange, sei es schärfere rhythmische Ausgestaltung, besonders dazu geschickt macht, zwischen verhältnißmäßig mehr deklamatorischen Stellen öfter gehört zu werden. So in dem fünfstimmigen von zwei Geigen begleiteten Satze zu 2 Sopranen, Alt, Tenor und Baß, über die Worte: "Daran ist erschienen die Liebe Gottes unter euch", wo diese Wiederholungen sogar durch zwei, von einem Instrumental-Zwischenspiel getrennte Theile sich hinziehen. In anderen seiner Gesänge ist es der Gegensatz der Behandlung einzelner Theile, ohne Wiederholungen solcher Art, der das Ganze abrundet. So beginnt der ebenfalls fünfstimmige Satz für dieselben Stimmen, und mit gleicher Begleitung als der eben besprochene, über die Worte: "Danksaget dem Vater, der uns tüchtig gemacht hat zu dem Erbtheile der Heiligen im Licht", prächtig und volltönend im dreitheiligen Takte; redemäßig betont hören wir dann die Worte: "welcher uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsterniß, und hat uns versetzet in das Reich seines lieben Sohnes", die zuletzt vollstimmig, nachdrücklich erklingen; in Nachahmung verflochten vernehmen wir den Spruch: "durch welchen wir haben die Erlösung durch sein Blut" und endlich rufen alle Stimmen in feierlichem Zusammentönen, kräftig und bedeutsam uns entgegen: "nämlich die Vergebung der Sünden." Andre Sätze sind fugirte, so der vierstimmige: ich hielte mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter Euch etc., worin Rosenmüller dem Motett des Alessandro Grandi: Quasi cedrus exaltata sum, etwas nachgegangen ist. In anderen endlich, wie in dem "0 Jesu nomen dulce" tritt, im Eingange zumahl, das Melismatisirende der Cantaten des Carissimi - die Anwendung längerer, die Grundmelodie dehnender Gesangsverzierungen damahls neuster Art - hervor, und stellt sich als Gegensatz dem Deklamatorischen und schärfer Rhythmischen entgegen. Überall ist die Wortbetonung angemessen, nachdrücklich, der Tonsatz rein, die Stimmenführnng fließend; nirgend finden wir Mattigkeit; bis an das Ende hin, wie es der Inhalt des Gesungenen erheischt, erfreut uns eine gleichmäßige Wärme, selbst Steigerung des Ausdrucks. Herbe, ungewöhnliche Mißklänge sind weder als Würze angewendet, noch mit Vorliebe aufgesucht, wie es Schein thut. Das Gepräge der alten kirchlichen Grundformen erscheint dagegen fast ganz erloschen, alle Sätze - wenn wir etwa phrygische Anklänge ausnehmen - beruhen auf den Tonarten unserer Tage.
Neben diesem gedruckten Werke sind aber noch eine große Menge nur handschriftlicher Tonwerke Rosenmüllers auf uns gekommen, Messen, Vesperpsalmen, Magnificat, wenige nur auf deutsche, die meisten auf lateinische Texte; wir möchten daraus schließen, daß sie um die Zeit seines Aufenthalts in Venedig entstanden sind, zumahl sie auch sämmtlich das Gepräge späterer Zeit tragen. Seine Art und Kunst verleugnet sich in keinem derselben, der veränderten Behandlung ungeachtet, die wir in Vergleichung gegen jenes, wie wir glauben frühere Werk, an ihnen wahrnehmen; unter sich stimmt in den allgemeinen Zügen der Anordnung fast jedes unter ihnen dem andern überein.
Es wäre weder mit der Bestimmung dieses Buches vereinbar, noch überhaupt für die Geschichte der Tonkunst irgend ersprießlich, wenn wir alle diese zahlreichen Tonwerke im Einzelnen betrachten wollten. Es genügt für unsern Zweck, an den vorzüglichsten unter ihnen uns über dasjenige zu verständigen, worin sie der Form und Behandlungsweise nach übereinstimmen, und wodurch sie sich eigenthümlich unterscheiden.
Zunächst ist es größere Breite und Ausführlichkeit, worin sie vor den Kernsprüchen sich auszeichnen. Die einzelnen Theile sind mehr durchgebildet, man sieht, daß die moderne Form solcher geistlicher Tonwerke in ihnen immer mehr sich entwickelt und feststellt. Recht kenntlich erscheint dies in dem sechsstimmig begleiteten Psalme für die gewöhnlichen 4 Singstimmen: Lauda Jerusalem Dominum (Ps. 147 der lutherischen Bibel, V. 12-20). Zwei Geigen und Violen, jene mit 2 Zinken, diese mit zwei Posaunen zusammengehend, der Baß von der Orgel begleitet, und eine concertirende Trompete leiten ihn durch ihr Tonspiel ein, und gesellen sich dann dem Gesange. Die Worte: Preise Jerusalem den Herrn, lobe Zion deinen Gott, mit denen die Altstimme das Ganze beginnt, und deren Melodie die Trompete nachklingt, bis endlich der volle Instrumentenchor, dem Singchore nun vorangehend, mit diesem in kräftigem Wechsel ertönt, und durch ein leise verhallendes Nachspiel schließt - diese Worte, und ihre Betonung kehren durch das Ganze oftmahls wieder, und verketten seine einzelnen Theile, in denen aus den Chorstimmen bald zwei einzelne Soprane zu zweistimmigem Gesange sich vereinen, bald zwei dreistimmige Chöre aus einzelnen der drei tieferen Stimmen gebildet, zu sechsstimmigem Wechselgesange einander gegenübertreten. Es erscheint hier etwas dem Ähnliches, das in vielen Gesängen aus den Kernsprüchen uns begegnet, nur ist es um vieles reicher ausgestattet, feiner durchgebildet, mit breiter ausgesponnenen Instrumentalsätzen durchwoben, die oft die Form selbständiger Einleitungen zu dem Folgenden annehmen, und bei denen die Trompete, singend oder munter schmetternd, sich stets auszeichnet. Ja, in der Mitte des Ganzen bringen die Worte: qui dat nivem sicut lanam etc. (V. 16. er giebt Schnee wie Wolle, er streuet Reiffen wie Aschen) uns etwas einer förmlichen Fuge Ähnliches entgegen; wie denn auch das sicut erat, in principio in gleicher Art beginnt, dann bei dem "Amen" einem Wechselspiele einzelner Stimmen und Instrumente Raum giebt, das in einen andern fugirten Satz übergeht, dem endlich das zuerst gehörte Lauda sich wieder anreiht, und so das Ganze endet, es umfassend, durch dasselbe sich hinflechtend. Wir fanden im 16ten Jahrhunderte, daß Eccard bei den meisten seiner auf der Liedform beruhenden Festgesänge, in den Schlußsätzen doch eine breitere, fugirte, immer bedeutsam, nachdrücklich erscheinende Ausführung liebte. Man könnte im mehrstimmigen Satze es demjenigen vergleichen, was in älterer Zeit bei einfachen Melodieen in den Neumen sich darstellte; ist es auch nicht ein wortloses Forthallen des Gesanges wie dort, so doch stets ein mehr an den Ton Geknüpftes als an das Wort selbst; an die Melodie, wie sie das Wort deutend, und daneben eine selbständige Bedeutung gewinnend, aus den Tönen erwuchs. Ein Ähnliches erscheint hier; was aber bei jenem älteren Meister kurz und gedrängt war, breitet sich hier aus, nicht immer zu gleichem Nachdrucke wie dort, oft nur zu freiem, geistreichem Spiele. Solche ausgedehntere, fugirte Schlußsätze finden wir nun mit wenigen Ausnahmen fast bei allen diesen Psalmen und Lobgesängen. In einigen derselben tritt auch in ihrem ganzen Fortgange die Ausbildung des Einzelnen noch mehr hervor als in dem besprochenen. So in einem vierstimmigen, auf gleiche Weise als dieser begleitetem Dixit, dem 110ten Psalm: "Der Herr sprach zu meinem Herrn, setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege etc." Hier sondern von dem Singechor bei den einzelnen Versen, zuerst 4 Bässe in nachahmenden Sätzen sich aus, dann 4 Soprane, mit denen später 4 Alte wetteifern, endlich 4 Tenore, dem vollen Chore gegenübergestellt; ähnlicher Wechsel, bei dem jedoch stets gleiche Einzelstimmen anderer Art sich vereinen, und dem vollen Chorgesang entgegentreten, erneut sich durch das Ganze hin, und bildet hier, wie es anderwärts durch unveränderte Wiederholung einzelner bedeutsamer Stellen geschieht, die äußeren Umrisse der Form des Ganzen. Die Worte des letzten Verses: de torrente in via bibet etc. "Er wird trinken von dem Bach auf dem Wege, darum wird er das Haupt erheben" etc. bringen uns in dessen erster Abtheilung einen 4stimmigen fugirten Satz über eine stets in der Gegenbewegung nachgeahmte, chromatische, mit einem Gegensatze verflochtene Melodie, und diesem folgt in der 2ten ein feurig lebhaft bewegter in dreitheiligem Takte, der bei seinen Schlußfällen durch erweiterte Rhythmen sich auszeichnet. So offenbart sich überall das Streben nach Abgrenzung und Ausgestaltung des Einzelnen, nach dem Festhalten bedeutsamer Gegensätze, wo der Text sie irgend entgegenbringt, und deren tonkünstlerischer Fassung, neben der Abrundung des Ganzen durch kräftige, gestaltende Züge. Daß aber dabei die Form auch stets durch den Inhalt bedingt wird, giebt diesen Sätzen das Gepräge ächter Kunstwerke. In den meisten derselben findet sich keine Bezugnahme auf kirchliche Melodieen, sie sind ganz frei gearbeitet. Der eben besprochene 110te Psalm, und eine andere Bearbeitung desselben für 2 vierstimmige Chöre, die von einem 5stimmigen Geigenchor, zwei Zinken, zwei Posaunen, dem Fagott und der Orgel begleitet werden, beginnen mit der Intonation des 5ten Kirchentones, dessen Erscheinen sich jedoch auf diese Eröffnung des Ganzen beschränkt. Anders ist es mit Rosenmüllers Magnificat für 2 4stimmige Chöre, 5 Geigeninstrumente, zwei Zinken, drei Posaunen. Es wird durch die Intonation des sechsten Kirchentones eingeleitet, zu einem figurirten Basse; in ähnlicher Art tritt dieselbe wieder ein bei dem "et misericordia" etc. (seine Barmherzigkeit währet immer, für und für, bei denen, die ihn fürchten) "suscepit" etc. (er gedenket der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf) "sicut erat" etc. (wie es von Anfang war etc.) und giebt so dem Ganzen sein Gepräge, und seine Gestaltung. Auch dadurch ist das Magnificat vor den andern Psalmen, zumahl dem die Vesper beginnenden Dixit ausgezeichnet, das am reichsten mit aller Pracht ausgestattet ist, daß es keinen fugirten Satz, auch nicht am Schlusse, enthält, sondern nur einfache Wechselchöre, wenn wir das durch kurze Melismen eingeleitete Gloria ausnehmen. So hat der Meister den demüthig frommen ältesten Gesang des neuen Bundes unterscheiden wollen von den dem alten angehörenden, die bei ihm den ganzen Prunk des Tempeldienstes vor sich hertragen.
Unter den übrigen handschriftlichen Tonsätzen Rosenmüllers wären etwa nur drei noch mit Rücksicht auf eigenthümliche Behandlung auszuzeichnen; nicht daß die übrigen geringhaltiger wären, sondern daß sie in den allgemeinen Umrissen ihrer Gestaltung den besprochenen übereinkommen, an deren Betrachtung wir uns hier müssen genügen lassen, um nicht bei einem unserer Hauptaufgabe ferner stehenden Gegenstande zu lange zu verweilen. Meist haben diese Tonsätze eben die schon betrachteten Psalme zum Gegenstande, ohne bei der wiederholten Behandlung, trotz aller Verschiedenheit der Ausführung des Einzelnen, in der Form des Ganzen von der früheren abzuweichen; oder auch andere - Laetatus sum (Psalm 122: "Ich freue mich dessen das mir geredet ist, daß wir werden in das Haus des Herrn gehen" etc.) - Credidi (Ps. 116. V. 10-19: "Ich glaube darum rede ich" etc.) - Laudate pueri (Ps. 113: "Lobet ihr Knechte des Herrn" etc.) - Nunc dimittis (Nun lässest du Herr deinen Diener in Frieden fahren, den Lobspruch Simeons) und andre, die uns zwar in Ton und Ausdruck, nicht aber in der Behandlung Neues entgegenbringen. Jenen dreien aber, deren wir gedachten, ist dies nachzurühmen. Der erste ist eine 4stimmige Messe, die zwar nicht eine streng kanonische genannt werden darf, wohl aber durchgehends kanonische Nachahmungen zeigt, würdig und ernst gehalten. Der 2te behandelt die 6 ersten Verse des 31sten Psalms: In te Nomine speravi (Herr, auf dich traue ich, laß mich nicht zu Schanden werden); hier erscheinen fugirte Sätze, mit längeren Einzelgesängen für jede der vier Singstimmen durchwoben; so tritt der Alt auf bei der Stelle: in justitia tua libera me (errette mich durch deine Gerechtigkeit); der Tenor bei den Worten: esto mihi etc. (sei mir ein starker Fels und eine Burg, daß du mir helfest etc.); der Baß tritt dann ein: Quoniam fortitudo mea (denn du bist mein Fels und meine Burg); der Sopran schließt: In manus tuas etc. (In deine Hände befehle ich meinen Geist etc.). Es ist, wie wir sehen, immer eine innere Ebenmäßigkeit in den Verhältnissen der Theile des Ganzen, eine Art Strophenbau, wenn wir es so nennen wollen, den der Tonmeister durch seine Kunst der ungebundenen Rede der Schrift leiht; ähnlich dem Wechsel der Zeilen in dem Liede, und ihren Beziehungen zu einander, durch welche die Stollen des Aufgesanges und der ihm gegenüberstehende Abgesang sich bilden. So werden Rosenmüllers Satze im besten Sinne Tongebäude, und die Anschaulichkeit, die sie dadurch gewinnen, hat gewiß zu dem großen Beifall nicht wenig beigetragen, den sie in ihrer Zeit fanden, durch den sie auch gegenwärtig noch jeden Freund geistlicher Tonkunst anziehen, und den Grund zu dem Style der geistlichen Werke der großen Meister des beginnenden l8ten Jahrhunderts gelegt haben. Endlich liegt uns ein dreistimmiger Satz vor für 2 Soprane und Baß, dessen Worte, anfangs in ungebundener Rede, die Vergänglichkeit, die Last, das Ungemach des Weltlichen schildern, das trotz aller dieser Gebrechen dennoch den Menschen gefalle; dann aber, zu gereimten Versen sich gestaltend, die verblendeten Sterblichen zu den himmlischen Freuden hinweisen. [Fußnote Winterfelds: In hac misera valle lacrymarum nihil dulce, nil jucundum. Mortales sumus, cinis et fumus; semper lacrymae et poenae, suspiria, lamenta, moerores et tormenta, gemitus et catenae; semper irata fulmina, procellae turbidae, semper horrida bella, caedes semper et vulnera! Et tamen nobis placet exilium, placent dolores, placent moerores, suspiria, poenae, tormenta, catenae! / O coeci mortales, delusi viventes / cur fugitis coelum, terrena sequentes? / Cur placent dolores, cur spinas amatis? / Aeternos ad flores cur non anhelatis? / Alleluja!]
Wenige Gesänge Rosenmüllers kommen diesem gleich an Trefflichkeit der Wortbetonung bei der feinsten Ausbildung der Melodie. Aus recitativischen, kurzen Sätzen, die das Ganze einleiten, gestalten sich melodischer ausgebildete, die das Gebrechliche der menschlichen Natur beseufzen, den vielfachen Kummer, der dieses vergängliche Daseyn untergrabe, in sanften Klagetönen beweinen, in rauheren, bewegteren Tönen, alles ihm drohende Ungemach schildern; sodann tritt ein kurzer recitativischer Satz ein für die Worte: und dennoch gefalle dieses alles, das irdische Leben Gefährdende; durch ihn wird der Übergang gefunden zu den 4 letzten Zeilen in gebundener Rede, deren Rhythmus, im 6/4-Takte, die Betonung sich anschließt, an welche endlich, nach sonstiger Gewohnheit des Meisters, ein fugirter Satz zu dem "Amen" angereiht wird, der das Ganze krönt. Es ist mit sichtbarer Vorliebe gearbeitet, und, da es weder für die katholische noch evangelische Kirche zu gottesdienstlichem Gebrauche bestimmt seyn konnte, wohl eine freie Herzensergießung des Meisters, der an seiner Kunst über die ihn, wie wir hoffen schuldlos, betroffenen schweren Prüfungen sich tröstete, nach stets größerer Läuterung seines, vielleicht früher zu sehr dem Weltlichen zugewendeten Sinnes strebend.
Ein ähnlicher Geist weht in drei Liedern seines Zeitgenossen, des Rectors und späteren Predigers Johann Georg Albinus zu Naumburg (1624-1679), deren Melodieen man ihm zuschreibt: "Welt ade ich bin dein müde [Fußnote Winterfelds: S. Beispiele Nr. 110.]; Alle Menschen müssen sterben; Straf mich nicht in deinen Zorn." Nur von einer derselben, der des zuerst genannten, besitzen wir noch seinen Tonsatz, in Vopelius Gesangbuche von 1682 (S. 947), mit ausdrücklicher Nennung seines Namens. Das Lied dichtete Albinus auf den Tod eines Kindes, Johanna Magdalena, Töchterlein des Archidiaconus Ludwig Abraham Teller zu St. Nicolai in Leipzig, im Februar des Jahres 1649, und es wird nach Rosenmüllers Weise und Tonsatz wohl bei deren Bestattung gesungen, vielleicht auch damahls einzeln gedruckt worden seyn. Das an der 2ten Stelle angeführte Lied findet sich zwar ebenfalls bei Vopelius, jedoch unter bloßer Verweisung auf "seine bekannte Melodey" (S. 976). Daß von Rosenmüller ein Tonsatz über dasselbe herrühre, ist nicht zu bezweifeln. Schamelius erstand aus des Licentiaten, Professors Friedrich zu Leipzig Büchersammlung einen einzelnen Abdruck desselben, aus dem sich ergab, daß das Lied bei dem Begräbnisse des Kaufmanns von Hensberg am ersten Juni 1652 gesungen wurde, und daß Rosenmüller den Betrübten damit eine letzte Ehre habe erweisen wollen. Wetzel, der in seinen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Liederdichter diesen Umstand erzählt (Th. II. S. 404-407) und dabei den Beweis führt, daß man Albinus, nicht aber Rosenmüller für den Dichter des Liedes zu halten habe, legt zugleich einen, durch Schamelius erhaltenen Auszug eines Briefes von Albinus Sohne an ihn vor (vom 8. Mai 1714), worin dieser bezeugt, von seinem Vater selbst gehört zu haben, daß derselbe das Lied: "Straf mich nicht in deinem Zorn", und noch andere mehr, für Rosenmüller gemacht, wie denn auch seines Vaters Stubengeselle, der damahlige Magister und Student der Theologie, Caspar Ziegler, ein Gleiches gethan habe. Es hat mir indeß bisher nicht gelingen wollen, weder von dem einen, noch dem andern beider Lieder einen Tonsatz unseres Meisters aufzufinden, und so wird sich immer nicht mit Bestimmtheit behaupten lassen, daß deren noch jetzt übliche Weisen eben diejenigen sind, welche er zu denselben zuerst erfand, worüber auch weder Wetzel noch Schamelius sich äußern. Hat doch auch Matthias Gastritz lange Zeit für den Sänger der Weise des Schallingschen Liedes: "Herzlich lieb hab' ich dich o Herr" gegolten, weil er zuerst eine dazu erfand, die aber mit der später kirchlich gewordenen nichts gemein hat. Eben so wenig sähe ich Melodieen und Tonsätze Rosenmüllers zu anderen Liedern von Albinus, oder von Ziegler, den Tonsatz bei Vopelius ausgenommen. Dieser hat lange Zeit für ein Werk Joh. Sebastian Bachs gegolten, weil er aus Versehen in die von dessen Sohne Philipp Emanuel herausgegebene Sammlung seiner Choralgesänge aufgenommen war. Allein er und seine kirchlich gewordene Weise gehören Rosenmüller ohne Zweifel an. Vielleicht hat man seine Melodie auch dem Liede: "Alle Menschen müssen sterben" angepaßt, dessen Strophe mit der seinigen, bis auf die ersten beiden Zeilen des Abgesanges, übereinstimmt, welche bei ihm 7sylbige, dort 8sylbige sind, eine Abweichung, die das Anpassen sonst nicht erschwert, wie denn in manchen Liederbüchern auch gegenseitige Verweisungen des einen auf die Melodie des anderen Liedes vorkommen. Ob die gebräuchliche, eigene Weise des letztgenannten nicht vielleicht den Berliner Musicus Jacob Hintze zum Urheber habe, bleibe unentschieden; das dafür und dawider Sprechende haben wir früher erwogen. Eben so muß dahingestellt bleiben, ob das Psalmlied: "Straf mich nicht in deinem Zorn", als Werk desselben Dichters, dem die beiden andern Lieder angehören deren Melodieen Rosenmüller beigemessen werden, sich nicht später zu bequem zur Ausschmückung der Geschichte von der schmählichen Anschuldigung gegen Rosenmüller und seiner Flucht dargeboten habe, um dabei vernachlässigt zu werden. Walter mindestens, der diese Geschichte wahrscheinlich Wetzel nacherzählt, ohne seine Quelle zu nennen, erwähnt weder dieses, noch eines andern Liedes, zu dem Rosenmüller eine Melodie erfunden habe, Wetzel aber giebt keine Gewähr für seine Erzählung.
Weniges nur hat, diesem Allem zufolge, Rosenmüller für den Gemeinegesang gethan, in welchem er schon deswegen kaum recht heimisch werden konnte, weil Italien durch eine Reihe von Jahren seine Heimath geworden war. Für den Kunstgesang in der evangelischen Kirche ist er jedoch um so wichtiger. Er hat die damahls allgemein beliebt gewordenen italienischen Formen, mit denen sein langes Verweilen zu Venedig ihn vollkommen vertraut gemacht hatte, in ächt deutschem Sinne lebendig ausgestaltet, ihnen dadurch erst wahres Bürgerrecht gewonnen; was die späteren großen Meister des 18ten Jahrhunderts geleistet, haben sie zumeist ihm zu verdanken. Er ist kräftig, ohne Härte; wenn er sich derselben Mißklänge bedient, die bei seinem Zeitgenossen Schein uns mit verletzender Herbigkeit entgegentreten, so weiß er sie durch Vorbereitung, durch ungezwungene Herleitung aus dem Gange der Harmonie zu sänftigen, dem Sänger ihre Ausführung zu erleichtern, ihre Wirkung zu sichern. Sein Gesang von Verachtung der Welt giebt vor allen davon treffende Beispiele: selbst der mit seinem Lobe geizende Forkel hat diesen "eine schöne Arbeit" genannt. Ein sich erneuendes, lebendigeres Verhältniß des Kunstgesanges in der Kirche zu dem Gemeinegesange verdanken wir anderen Meistern, zumahl demjenigen, den wir uns nun zunächst vorüberführen wollen; hat aber auch Rosenmüller dazu nicht mitgewirkt, sondern mehr einseitig jenem sich gewidmet, so werden wir doch immer zugestehen müssen, daß erst dann, als frühere Künstler mit ihrer ganzen Kraft der einen und der anderen Seite sich zugewendet hatten, jene hohe Blüthe in der Vereinigung beider habe eintreten können, die erst eine spätere Zeit, und auch in nur einem besonders begabten Meister, reifen konnte. Wie es aber gekommen, daß in dieser dennoch das ächt kirchliche Gepräge nicht mehr vorwalte, wie am Schlusse des 16ten Jahrhunderts, dieses wird uns erst dann vollkommen deutlich werden, wenn wir die dazwischen liegende Bahn werden völlig durchmessen haben.