Venedigreise im Mai 2008
Im Dezember 2007 bekam ich überraschend eine E-Mail von Pedro Memelsdorff, seines Zeichens Blockflötist, Musikwissenschaftler, Leiter des Ensembles "Mala Punica" und der "Seminari di Musica Antica" an der Fondazione Giorgio Cini im ehemaligen Kloster San Giorgio Maggiore in Venedig. Er hatte durch Zufall meinen Aufsatz über Bachs homoerotische Liebesarie im Internet gelesen (siehe Aufsätze zur Musik), in dem ich auch über eine mögliche Verbindung von Bach zu Johann Rosenmüller spekuliere. Und deshalb lud er mich ein, im Mai 2008 an einem Seminar über Johann Rosenmüller unter dem Titel "JOHANN ROSENMUELLER / MUSICA E DISSIMULAZIONI NEL SEICENTO EUROPEO" teilzunehmen, wobei hier "Dissimulazioni" für die sozialbedingte, selbstgewählte und/oder erzwungene Selbstunterdrückung steht.
San Giorgio Maggiore
Nachdem ich erst einige Zweifel überwinden musste, ob ich diese Einladung annehmen soll, da ich kein studierter Musikwissenschaftler bin, wagte ich dieses Abenteuer, zum ersten Mal in meinem Leben nach Italien zu reisen. Die Zugfahrt begann am 9. Mai 2008 um 6 Uhr 12 in Wolfach und führte mit nur zweimal Umsteigen über Basel, Olten, die Kirche von Wassen (die man dreimal sieht), Gotthard, Mailand und Verona nach Venedig - eine traumhafte Strecke. Ich kam um 18 Uhr 09 in Venedig an, nahm ein "vaporetto" (Linienboot der Verkehrsbetriebe in Venedig) zur Insel "Giudecca", wo das Gästehaus "Residenza Junghans" liegt, in dem ich übernachtete - mit Blick auf einen Kanal. Die "Residenza Junghans" ist heute Teil der Universität Venedig und befindet sich in den Gebäuden einer ehemaligen Uhrenfabrik.
Blick aus dem Hotelzimmer
Nach einigen Mühen, die "Residenza" zu finden - die Adressen in Venedig bestehen nicht aus Straße und Hausnummer, sondern die Häuser sind quartierweise durchnummeriert - ging ich gegen halb neun zum Abendessen der Seminarteilnehmer ins Ristorante "I figli delle stelle", Via Giudecca 70/71. Dort begrüßte mich gleich Pedro und setzte mich an den "deutschen Tisch" mit dem Cembalisten und Musikwissenschaftler Robert Hill und dessen Lebenspartner sowie dem Bachforscher und Musikwissenschaftler Peter Wollny und dessen Frau.
Hill fragte mich nach meinem Vortrag über Bach und Rosenmüller, irgendwann bezog er auch Wollny in unser Gespräch mit ein und so diskutierte ich dann gut zwei Stunden lang mit zwei der bekanntesten Musikwissenschaftlern über Bach und Musik. Gegen 11 verabschiedeten sich Wollny und Hill, ich setzte mich zu Pedro an den Tisch, wo er mich den anderen Seminarteilnehmern vorstellte und ihnen begeistert von meinem Aufsatz vorschwärmte, wobei er meist auf Italienisch redete. Gegen 12 löste sich die Runde auf und ich ging in mein Hotel zurück.
Am Samstag Morgen fuhr ich um 8 Uhr mit einem vaporetto zunächst zu San Marco auf der anderen Kanalseite, schaute mir den noch menschenleeren Markusplatz an mit Dogenpalast und Campanile.
Dogenpalast und Campanile
Dann ging es auf die Isola di San Giorgio Maggiore zum Seminar. Auf dem Programm der "Giornata internazionale di studio" standen die folgenden Vorträge:
- Peter Wollny, Bach-Archiv Leipzig:
- Johann Rosenmüller and the Dissemination of Venetian Concerted Church Music
- Robert Hill, Staatliche Hochschule für Musik Freiburg:
- 'Strict' and 'Free' as Categories in Notation and Performance
- Frank Schrader:
- A homoerotic aria in J. S. Bachs cantata BWV 201 "Der Streit zwischen Phoebus und Pan".
- Sergio Bertelli, Università di Firenze:
- Erotismo libertino in Laguna fra Cinque e Seicento
- Giovanni Vian, Università di Venezia Ca' Foscari:
- Chiesa, fermenti religiosi, disciplinamento a Venezia nel secondo Seicento
- Manfredo Kraemer, ESMUC Barcellona:
- Note sulla violinistica di Rosenmüller
- Philippe Vendrix, Centre d'Etudes Supérieures de la Renaissance Tours:
- Dire et dissimuler dans la musique du 17e siècle
- Brenno Boccadoro, Université de Genève:
- Teoria umorale e retorica degli affetti nei Salmi di Rosenmüller
Als Abschluss des Seminars fand im Longhena-Treppenhaus des Klosters gegen 18:30 Uhr ein "Apéritif musical" mit den Musikstudenten statt, die in der Woche zuvor Werke von Rosenmüller einstudiert hatten. Verbunden damit war ein kleiner Sektempfang.
Konzert im Longhena-Treppenhaus des Klosters
Danach fuhren die Seminarteilnehmer per vaporetto auf die andere Kanalseite zum Abendessen auf der Terasse des Ristorante "Al Giardinetto Da Severino", Ruga Giuffa, Castello 4928. Ich setzte mich wieder an den Tisch mit Peter Wollny und seiner Frau, daneben saß eine Dame, die zu mir sagte: "Moment, ich hab mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt, ich bin Frau Schlick" - die weltbekannte Sopranistin Barbara Schlick. Robert Hill war nicht dabei, weil er mit seinem Partner noch auf Entdeckungstour durch Venedig ging. Frau Schlick redete recht viel, eine vollkommen liebenswerte Person, die immer wieder, auch wenn sie hauptsächlich mit Wollny redete, mich in das Gespräch einzubeziehen versuchte.
Auf dem Rückweg zur Anlegestelle machten wir noch zu viert einen kleinen Schaufensterbummel, und als wir an der Anlegestelle San Marco auf das vaporetto warteten, kamen zufällig auch Robert Hill und sein Freund daher, und wir fuhren gemeinsam zurück nach San Giorgio Maggiore, ich drei Stationen weiter zur Giudecca.
Canale Giudecca
Am Sonntag Morgen lief ich morgens um 8 vom Bahnhof Venedig aus durch die Gassen, blieb immer mal wieder stehen und hörte dem "Klang", der "Musik" dieser Stadt zu, irgendwo übt jemand auf dem Klavier ein kleines Stück, Mozart vielleicht, ich höre, schaue mich um, versuche, die Klänge zu orten, laufe ein Gässchen entlang, das plötzlich an einem Kanal mit einer Bootsanlegestelle endet, wieder zurück, den Tönen folgend, die vor mir zu fliehen scheinen, nicht gefangen werden wollen von meinen Ohren, bis sie verschwinden, komme zu einer der zahllosen Kirchen, schaue mich um, es ist 9 Uhr und von Ferne beginnen die Kirchenglocken zu läuten, ich allein auf dem Platz, blicke in den wolkenlosen Himmel, die Häuser hinauf und hinunter, gehe in die Kirche hinein, die Tür schließt sich hinter mir, Dämmerlicht, die Wände über und über mit Gemälden bedeckt, und jetzt ist es still, vollkommen still, nicht das kleinste Geräusch ist mehr zu hören und ich stehe einfach nur da und lausche ins Nichts.
Als ich am Markusplatz ankam, nur eine Hand voll Leute, da beginnt wieder dieses Glockenläuten, bleibe stehen, lausche....
Auf dem Canale Grande gab es an diesem Tag keinen Linienbootsverkehr, denn es war der Tag der "Vogalonga", an dem Tausende von Veneziern in kleineren und größeren Paddelbooten rund um Venedig herum fahren.
Sonntag Nachmittag um 17 Uhr gab es in San Giorgio Maggiore das Abschlusskonzert mit Rosenmüllerwerken, Manfredo Kraemer hat die Instrumentalisten betreut, mit ihm unterhielt ich mich auch zwei-, dreimal, überhaupt hab ich mit fast allen "Seminaristen" irgendwann mal zusammen gestanden und geredet, auf Deutsch, auf Englisch, wie es grade ging, es war alles so vollkommen harmonisch.
Die Seminarteilnehmer nach dem Abschlusskonzert
Anschließend war im Kreuzgang des Klosters noch ein Sektempfang, danach fuhren wir auf die Giudecca und setzten uns ans Ufer auf die Terrasse einer kleinen Kneipe, mit Blick auf Venedig und einen bezaubernden Sonnenuntergang.
Am Montag fuhr ich um 10:51 zurück nach Wolfach, wo ich um 22:57 Uhr ankam.